Das Sägemännchen im Honigwald
Nach dem Ende ihrer Lehrzeit zogen früher die angehenden Handwerks-Gesellen drei Jahre lang als Handwerksburschen durch die Lande. Ein solcher Handwerksbursche trat eines Abends in die Wirtsstube im Westerwald-Dörfchen Lahr. Er war schon den ganzen Tag auf den Füßen gewesen und doch hatte er sein Tagesziel nicht erreicht, das wenige Meilen entfernte Ellar. Das Wegstück, das noch vor ihm lag, führte durch den Honig-Wald, ein finsteres Gewächs ohne rechte Wege. Als er dem Wirt von seiner Absicht erzählte, erschrak der. Nur zu gut kannten die Hintermeilinger und die Lahrer die Erzählungen vom boshaften Waldgeist des Honig, dem Sägemann. Unser Wanderer lachte aber nur laut über den furchtsamen Wirt. Der hatte ihm zuletzt sogar kostenloses Nacht-Quartier angeboten, um ihn von der nächtlichen Honig-Durchquerung abzubringen. Doch vergeblich. Der Handwerksbursche nahm seine Tasche, griff nach dem Wanderstock und machte sich schnurstracks auf, den gefürchteten Waldweg nach Ellar zu betreten.
Bald erreichte er den Eingang zum langgestreckten Honig. In der hereinbrechenden Nacht dauert es nicht lange, bis er zum ersten Mal vom schmalen Weg abkam. Bald darauf kündigte sich am rabenschwarzen Firmament mit leisem Donnergrollen ein Unwetter an. Jetzt wurde sein Schritt mit einem mal schneller. Auf jeden Fall wollte er Ellar vor dem Regen erreichen. Der Gewitterwind setzte mit einem zischenden "Huiii" ein; heftige Böen bogen die jungen Bäume hinab bis auf den Boden. Doch je schneller er lief, umso mehr verfing sich der Fremdling in Baum und Gestrüpp. Eine ferne Turmuhr schlug Mitternacht: Geisterstunde! Noch schneller ging der Schritt, immer tiefer hinein in die rabenschwarze Ausweglosigkeit des Honigwalds. Prasselnd setzte der Regen ein, begleitet von wildem Blitz und Donner.
Dann, urplötzlich, lugte zwischen den blitzerhellten Bäumen und Büschen das hämisch grinsende Gesicht des gefürchteten Waldzwerges hervor. Erst hier, dann dort. Der Handwerksbursche versuchte, den Kobold zu packen. Doch der Unhold entwischte ihm und kicherte dabei feindselig. Da erfasste den jungen Mann eine gewaltige Furcht. Schon im nächsten Augenblick sprang ihm etwas auf den Rücken und krächzte: "Trag´ mich, Tölpel, deine Beine sind jung und kräftig".
Es war der Sägmann. Von hinten umfasste der zornige Wicht die Gurgel des vor Schreck Erstarrten und würgte ihn in einem fort mit den dürren Fingern, so dass der Handwerksbursche nur noch schwer keuchend vorankam. Wild schüttelte sich der geplagte Wanderer, doch den Kobold konnte er nicht loswerden. Heftig trieb ihn sein Peiniger vorwärts. Schweißgebadet jagte er mit seinem dämonischen Reiter durch dornige Brombeerhecken, über Äste und Wurzeln, die nach seinen Beinen zu greifen schienen. "Schneller!", schrie es von hinten, doch mit jeder Minute schwanden dem einst so Verwegenen die Kräfte. Die Beine drohten ihm schließlich zu versagen. Dann, gänzlich unvermittelt, tat sich vor ihm der Rand des Honigwaldes bei Ellar auf. Beim Anblick des Lichtes der Ellarer Kapelle löste sich der wilde Kujon mit einem scharfen Ruck vom Rücken seines Opfers und entschwand mit einem markerschütternden, triumphierenden Lachen so flugs im dunklen Gehölz, wie er von dort zuvor aufgetaucht war.
[Erzählt nach Rudolf Nies, "Nassauische Sagen - Für die Jugend erzählt", Verlag von Hegel & Schade, Leipzig, 1927.]